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Märtyrer Bouazizi: Ein rätselhafter Selbstmord, der die Welt veränderte
Vor genau einem Jahr: In einer kleinen tunesischen Provinzstadt schüttet sich ein junger Mann, 26 Jahre alt, eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit über Kopf und Körper und zündet sich an.
Noch am gleichen Tag verbreitet sich – über Facebook, Twitter und Fernsehen – die Nachricht im ganzen Land, in der ganzen arabischen Welt. 18 Tage später, am 4. Januar dieses Jahres, erliegt Mohammed Bouazizi seinen schweren Brandverletzungen.
Und noch einmal zehn Tage später, am 14. Januar, flieht Tunesiens langjähriger Diktator Zine al-Abidine Ben Ali samt Ehefrau und Gefolge aus dem Land und findet in Saudi-Arabien Aufnahme.
Das bisher Undenkbare ist geschehen: Eine arabische Autokratie wurde im ersten Anlauf gestürzt, nicht durch einen Putsch des Militärs oder konkurrierender Machtgruppen, sondern buchstäblich: durch das Volk. Das Regimeknicken, das eine Weile lang den poetisch-optimistischen Namen „arabischer Frühling“ trug, hatte begonnen.
Weder islamistisch noch gottesfeindlich
Revolutionen sind komplexe, verwirrende Ereignisketten, nur selten haben sie einen Ursprungsort, noch seltener gibt es einen Menschen, von dem man mit Fug und Recht sagen kann, er habe den Umsturz eingeleitet. Wer also war Mohammed Bouazizi? Auf den ersten Blick fügt sich seine Gestalt gut in das erhabene, aber nur zum Teil zutreffende Bild, das wir uns insbesondere von der tunesischen „Jasminrevolution“ gemacht haben.
Bouazizi – so lauten die ersten Erzählungen, die Verbreitung finden – ist der typische Repräsentant einer tunesischen Jugend, die nicht rechts und nicht links, weder islamistisch noch gottesfeindlich ist.

Einer Jugend, die in der Regel gut ausgebildet ist, sich der neuen Kommunikationsmedien zu bedienen weiß und die sich in einem erstarrten Regime um ihre Zukunft, ihre Lebensmöglichkeiten, ihren Aufstieg betrogen fühlt.
Diese jungen Leute sind nicht Kinder von Marx und Coca-Cola, sind nicht im eigentlichen Sinne politisch. Sie wollen ganz einfach leben, ein halbwegs gutes Auskommen haben. Natürlich schielen sie dorthin, wo das möglich ist: auf den europäischen, auch den amerikanischen Westen.
Sie wollen so leben, wie man dort lebt, aber nicht unbedingt das dortige System übernehmen. „Arbeit und Würde“: Diese hierzulande altmodisch klingende Wendung ist eine ihrer Parolen.
Wahrheit noch immer nicht aufgeklärt
Das Bild stimmt – und stimmt doch nicht. Schnell macht das Gerücht die Runde, Mohammed Bouazizi habe – wohl in einem technischen Fach – studiert und ein Diplom gemacht. Dazu gezwungen, sich als Gemüsehändler über Wasser zu halten und zudem von den Behörden schikaniert, habe er sich entschlossen, mit der Selbstverbrennung ein Zeichen zu setzen. Doch die Wahrheit ist noch immer nicht ganz aufgeklärt.
Reporter und Forscher haben sich bemüht, die wenigen Fakten zu sammeln, die über Mohammed Bouazizi noch zu sichern sind – in Deutschland vor allem der „Spiegel“-Journalist Mathieu von Rohr und Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Was sie und andere recherchiert haben, erzählt eine andere Geschichte.
Mohammed Bouazizi hat weder studiert noch das Abitur gemacht. Er hätte es vielleicht gewollt, er hatte aber keine Chance. Nach dem frühen Tod des Vaters muss er alleine die Familie ernähren, seine Mutter und seine fünf jüngeren Geschwister.
Kein Gedanke an Fortbildung, schon gar nicht in diesem keineswegs pittoresken, sondern trostlosen Ort, 265 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis, mit etwa 40.000 Einwohnern und dem Namen Sidi Bouzid.
Mutter Manoubia pflückte gerade Oliven
Die unwirtliche Stadt im Landesinneren – in deren Umgebung 1943 die Schlacht am Kasserinpass stattfand, der erste direkte Zusammenstoß deutscher und amerikanischer Truppen im Zweiten Weltkrieg – ist von Bergen umgeben. Das hat die gestaltlose Stadt an der Entwicklung gehindert. Obwohl sie der größte Gemüseproduzent des Landes ist und über einen beträchtlichen Olivenanbau verfügt, leben die Menschen nur schlecht und recht, die Zahl der Tagelöhner ist groß.
Als ihr Sohn sich anzündet, arbeitet Mohammeds Mutter Manoubia gerade in einem Olivenhain. Nach dem Tod des Vaters, er war Gemüsehändler, reicht es für den Sohn nicht zum eigenen Geschäft. Er erwirbt einen Karren und eine elektronische Waage, die er nachts bei einem Freund auflädt.
Im Stadtinneren sucht er sich einen Platz, um seine Ware feilzubieten. Seine Lage ist immer prekär, denn er besitzt keine offizielle Verkaufslizenz. Immer wieder muss er den Platz wechseln, immer wieder wird er kontrolliert, und die Behörden des autoritären Staates lassen einen wie ihn gerne spüren, dass er nichts zählt, nichts zu melden hat, sich ducken soll. Immer wieder kassiert er Strafen, die einen ganzen Monatsverdienst und mehr auffressen.
Es ist ein Leben am Rande – am Rande auch der Selbstachtung.
Das unbeweisbare Gerücht – Ohrfeige einer Frau
Am 17. Dezember 2010 steht er mit seinem Holzkarren, auf dem er Mandarinen, Äpfel und Birnen feilbietet, an seinem Platz. Gegen 11 Uhr kommt die Polizistin Faida Hamdi vom Ordnungsamt vorbei, wieder einmal. Wie mehrfach zuvor schon, beschlagnahmt sie kurzerhand seine Ware samt der elektronischen Waage.
Von dem, was nun geschah, bis hin zur Selbstverbrennung, gibt es viele widersprüchliche Zeugenaussagen, in denen sich – so steht es zu vermuten – Wahrheit und Dichtung unentwirrbar mischen. Es heißt, Mohammed und die Polizistin seien heftig aneinandergeraten: schwacher Mann, starke Frau. Und dann – so das unbeweisbare Gerücht – soll Faida Hamdi dem jungen Mann eine Ohrfeige gegeben haben.
Wenn es so war, dann war es in diesem muslimischen Land, das auch ein Land der Männerehre ist, etwas sehr Schwerwiegendes. Die Polizei kommt, die anderen Händler setzen sich ab.
Vetter Mohammeds nimmt Szene mit Smartphone auf
Bouazizi reagiert nicht aufbrausend, sondern rational. Er geht zur zuständigen Polizeiwache und fordert seine Waage zurück, vergeblich. Daraufhin begibt er sich zum Sitz des Gouverneurs und will diesen in seiner Sache sprechen, abermals vergeblich.
Gegen 13 Uhr nimmt er mit seinem Karren vor dem Haus des Gouverneurs Stellung, übergießt sich mit einer Flüssigkeit und zündet sich an. Kein Schrei, keine Parolen, keine Botschaft – jedenfalls ist nichts dergleichen überliefert. Jetzt kommen die neuen Kommunikationsmedien ins Spiel, die die Umlaufgeschwindigkeit von Nachrichten in der ohnehin gerüchtereichen arabischen Welt noch weiter beschleunigen.
Einer der Augenzeugen, der Mohammed Bouazizi kennt, ruft sofort dessen Cousin Ali an, der einen Supermarkt betreibt. Dieser eilt schnell herbei und kann gerade noch sehen, wie der entstellte Körper seines Vetters Mohammed auf eine Bahre gelegt und im Krankenwagen abtransportiert wird. Er nimmt die Szene geistesgegenwärtig, aber vermutlich ohne besondere Absicht mit seinem Smartphone auf.
Umsturz kann nicht mehr gestoppt werden
Nun nimmt das Ereignis seinen medialen Lauf. Zusammen mit einem Freund schneidet er die Sequenz wenige Stunden später, ergänzt um Aufnahmen von den jetzt einsetzenden Demonstrationen Jugendlicher, zu einem kleinen Film zusammen. Am Abend wird dieser von dem in der ganzen arabischen Welt ausstrahlenden Fernsehsender al-Dschasira gesendet.
Das ist der Moment, ab dem die Bewegung des Umsturzes mindestens in drei nordafrikanischen Küstenstaaten Anlauf nimmt und bald nicht mehr gestoppt werden kann. Ein – rätselhafter – Selbstmord wird im wahrsten Sinne zum Fanal, zur Fackel.
Wie auch immer er „gemeint“ war, was auch immer den jungen Mann in den Tod getrieben hat – Hunderte, Tausende, Millionen deuten ihn autoritativ zu einer Verzweiflungstat, die gegen die Tyrannei aufrütteln soll. Die Person des Sterbenden verschwindet hinter dieser Deutung.
Mohammed Bouazizi hat keine Überlebenschance. Er hat Verbrennungen vierten Grades, es ist davon die Rede, dass 90 Prozent seiner Haut verbrannt seien – schon bei etwas mehr als zehn Prozent gibt es kaum noch Chancen zu überleben. Man bringt den verkohlten Körper des jungen Mannes in ein Krankenhaus in der Hauptstadt Tunis.
Diktator Ben Alis Krankenhausbesuch
Im Land nehmen die Proteste auf den Straßen von Tag zu Tag mehr zu, sie greifen – ungewöhnlich für Revolten, die sonst in der Regel in den großen Städten ihren Ausgang nehmen – vom Land auf die Hauptstadt über. Es ist kein flackernder Protest mehr, es geht um den Umsturz, und bald scheint er – trotz der Gefahr eines Staatsmassakers – greifbar nahe zu sein.
In dieser Situation kommt es zu einer gespenstischen Szene. Der Diktator Ben Ali, der nun lernen musste, den Protest ernst zu nehmen, bemüht sich in das Krankenhaus Ben Arous, es soll wohl eine Geste der Beschwichtigung und des Mitgefühls sein.
Mit seinem Tross und dem medizinischen Personal steht er starr und mit gefalteten Händen an dem Bett des Sterbenden. Ein Gespräch ist nicht mehr möglich. Bouazizi liegt, einer Mumie ähnlich, völlig von Mull umwickelt da, nur dort, wo der Mund ist, tut sich eine Öffnung auf. Eine rote Decke, kariert und geblümt, bedeckt den Körper von der Brust an abwärts. Der Tyrann und ein sterbender Sohn seines Landes.
In einem schlichten Grab beigesetzt
Der Gemüsehändler, der wohl keiner sein wollte, wird in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid in einem schlichten Grab beigesetzt. Fast erstaunt es, dass es nicht mehr als 5000 Menschen sind, die an der Beisetzung teilnehmen. Selbstmord kann in der arabischen Welt ebenso Schande wie Märtyrerfanal sein.
Mohammed Bouazizi wird ein Volksheld – seine Familie steht nun zwar ein wenig im Rampenlicht, gut ergeht es ihr jedoch nicht. Ein Gerüchtemantel legt sich um sie. Der dann schon geflohene Diktator hatte nach dem stummen Krankenhausbesuch die Mutter des Sterbenden zum Gespräch geladen und ihr – so heißt es – umgerechnet etwa 10.000 Euro geschenkt.
Die Familie gerät in den Ruch, Nutznießer des alten Regimes zu sein. Und zugleich Nutznießer der neuen Situation. Denn ständig wird sie von Journalisten und Kamerateams aufgesucht, alle wollen die wahre Geschichte des Mohammed B. bringen. Es heißt, da sei viel Geld geflossen, eine Mauer des Neids umgibt die Familie. Sie hat den Ernährer, ihre Normalität und einen Teil ihres Rufs verloren.
"Der Märtyrer Mohammed Bouazizi"
Auf dem Grabstein steht heute in heroisch-schlichter Diktion: „Der Märtyrer Mohammed Bouazizi, geboren am 29.3.1984, gestorben am 4.1.2011.“
Fast ein Jahr nach dem Tod des Gemüsehändlers wider Willen ist so viel sicher: Dieser Mann hat den größten Umbruch in der arabischen Welt seit Jahrzehnten ausgelöst, einen Umbruch, der als Frühling begann und von dem ganz unklar ist, wohin er führen wird – in eine bessere Welt oder eine neue Unfreiheit. Wir wissen nicht, warum er sich tötete und ob seine Tat auch für ihn eine politische Dimension hatte.
Wir haben viel Neues über die arabische Welt erfahren. Wer Mohammed Bouazizi war, das wissen wir nicht.
Kategorie: Meine Artikel | Hinzugefügt von: sorvynosov (17.12.2011) W
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