Atomausstieg: Acht Wochen, zu wenig Beamte und viel zu viel Arbeit
Die von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geplante „Energiewende“ ist nach Einschätzung von FDP-Generalsekretär Christian Lindner „ein Projekt von der Dimension Mondfahrt“. Das ist vielleicht noch nicht einmal übertrieben.
Die in mehr als 100 Jahren gewachsene Energieinfrastruktur der größten europäischen Volkswirtschaft soll in kürzester Zeit umgebaut und durch etwas komplett Neues, Grünes und Nachhaltiges ersetzt werden. Weltweit wurde ein Projekt mit so tiefen politischen Eingriffen in Markt und Energieversorgungssystem und derartig großen gesellschaftlichen Auswirkungen noch nie in Angriff genommen.
Die Dimensionen der ökologischen Energiewende mögen dem Projekt Mondlandung vielleicht gleichkommen, die Mittel zu ihrer Durchsetzung entsprechen ihm auf gar keinen Fall: Die Nasa hatte ihr Apollo-Programm acht Jahre lang vorbereitet und dafür zeitweise bis zu 400.000 Menschen beschäftigt. Die Kanzlerin will ihre Energiewende in acht Wochen durchbringen, und ein paar Dutzend Beamte in einer Handvoll Bundesministerien müssen dafür die gesetzliche Grundlage schaffen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will jetzt nicht nur den Atomausstieg neu regeln – dafür würde ein eher kleiner Eingriff ins Atom- und Energiewirtschaftsgesetz ausreichen. Nein, die gesamte ökologische Energiewende soll bis in die kleinsten Verästelungen hinein in einem Rutsch verabschiedet werden.
Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), Netzausbaubeschleunigungsgesetz, Novelle des Baugesetzbuches, Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz, Energieeinsparverordnung, Energie- und Klimafondsgesetz: Ministerialbeamte und die überschaubare Zahl von Abgeordneten, die sich derlei antun mögen, kämpfen sich derzeit durch Tausende Seiten von Referentenentwürfen zu acht großen Bundesgesetzen und ebenso vielen Verordnungen. Am 15. Juni läuft das Moratorium für die deutschen Atomkraftwerke aus. Die Regierung will bis dahin entscheiden, welche Meiler für immer vom Netz müssen und wie lange die anderen noch laufen sollen. Basis für die Entscheidung sind auch die Berichte der beiden von der Regierung eingesetzten Kommissionen. Ein Überblick über den aktualisierten Fahrplan. 30. Mai: Übergabe des Berichts der Ethikkommission, danach Fraktionssitzungen der Koalitionsfraktionen. 3. Juni: Fraktionssitzungen der Koalitionsfraktionen oder Sitzungen der Fachleute der Koalition mit Beratung über den Atomausstieg. 6. Juni: Vormittags Kabinettsentscheidung zum neuen Atomgesetz, ab Mittags Sitzungen der Fraktionen zu den Energieentscheidungen. 9. Juni: Erste Lesung des Pakets zum Atomausstieg und für eine beschleunigte Energiewende im Bundestag. 15. Juni: Ende des dreimonatigen Atom-Moratoriums. Auch wenn der Atomausstieg bis dahin nicht von Bundestag und Bundesrat beschlossen sein wird, wollen die AKW-Betreiber die acht vorübergehend stillgelegten Meiler nicht wieder hochfahren. 30. Juni: Zweite und Dritte Lesung des Pakets. 8. Juli: Der Bundesrat entscheidet über das Gesetzespaket Am Ende wird wahrscheinlich kein einziger Bundestagsabgeordneter die vielen Energiegesetze, die dem Parlament in den kommenden Wochen zur Abstimmung vorgelegt werden, in Gänze gelesen oder auch nur in ihrer vollen Tragweite erfasst haben.
Das ist an sich schon schlimm genug. Mindestens ebenso schlimm: Es ist kein Verlass darauf, dass die Gesetze handwerklich solide ausgearbeitet sein werden. Im Gegenteil: „Pfusch am Bau ist programmiert“, sagt ein mit der Materie befasster Spitzenbeamter der Bundesregierung. „Sie können sich nicht vorstellen, was hier abläuft!“, schimpft ein anderer hochrangiger Beamter: „So was hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben, unverantwortlich!“ Weil die Koalitionsspitzen schon an diesem Sonntag das Gesamtpaket absegnen wollen, werden die Gesetze „jetzt im Stundentakt beraten“.
Nachtarbeit wird Regelfall
Für die oft nur mit zwei oder drei Mitarbeitern besetzten Fachreferate der Ministerien ist Nachtarbeit der Regelfall geworden, Wochenenden sind gestrichen. Hinweise oder Nachfragen aus der Energiewirtschaft erreichen die Gesetzesautoren schon seit Tagen nicht mehr: „Da geht keiner ans Telefon, die reagieren auch nicht auf E-Mails“, stellt der Politikbeauftragte eines großen Energieunternehmens fest.
Die Verbände der Energiewirtschaft, die Stellungnahmen zu den Regierungsplänen abgeben sollen, zeigen bereits Stresssymptome. So bekam der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) den 180 Seiten starken Entwurf für die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes erst am späten Donnerstagabend in die Hand, sollte seine Analyse aber schon am folgenden Montag abgeben.
Da platzte selbst der sonst diplomatisch agierenden BDEW-Chefin Hildegard Müller der Kragen: „Niemandem nutzt es, wenn das Erneuerbare-Energien-Gesetz wegen übertriebener Eile im Nachgang zu neuen Problemen führt, welche bei einer umfassenden und seriösen Beratung bereits im Vorfeld aufgefallen wären“, wetterte Müller in einem Brief an Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU).
Kleinere Verbände mit geringerer Personalstärke trifft es noch ärger. Der Bundesverband Neuer Energieanbieter (BNE) bekam exakt ein Wochenende Zeit, um den 254 Seiten starken Entwurf des Energiewirtschaftsgesetzes zu bewerten. „Eine genaue Analyse“, heißt es beim BNE, der vor allem die Interessen der kleinen Wettbewerber gegen die großen Energieriesen vertritt, sei unter diesen Bedingungen „faktisch unmöglich“.
Fachliche Schnitzer sind absehbar
Doch schon bei grober Durchsicht der Novelle hat der BNE fachliche Schnitzer festgestellt. Beispielsweise soll im Energiewirtschaftsgesetz den Hauseigentümern offenbar in einer Art Hauruck-Aktion unterschiedslos der Einbau von „intelligenten“ Stromzählern vorgeschrieben werden. Dabei hatte es die EU-Kommission den Mitgliedsländern ausdrücklich freigestellt, dazu erst einmal eine sogenannte Potenzialanalyse zu machen, um zu prüfen, für welche Kundengruppen die „Smart Meter“ überhaupt sinnvoll sind.
Ein Schritt, für den in der hektischen deutschen Energiewende offenbar keine Zeit bleibt: Nach dem neuen Gesetzentwurf, warnt der BNE, drohe hierzulande eher „ein übereilter Massen-Roll-out, der vor allem teuer ist und dessen Nutzen nicht feststeht“.
Normalerweise sollen Betroffene die Gelegenheit haben, die Auswirkungen von geplanten Gesetzen vorab aus ihrer eigenen Kompetenz heraus zu beurteilen und den Gesetzgeber auf mögliche Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. „Verbändekonsultationen“ sind bei Gesetzesnovellen deshalb üblich. Diesmal jedoch verkommen sie zur Farce.
Verbände verweigern die Mitarbeit
Das zeigt sich schon daran, dass einige der wichtigsten Branchenverbände ihre Mitarbeit beim größten energiepolitischen Reformwerk der jüngeren Geschichte komplett eingestellt haben. In einem Brief an Minister Röttgen bedankte sich der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) für die Zusendung des Referentenentwurfs für ein neues EEG, das wichtigste Regelwerk für die Energiewende.
Doch „aufgrund der äußerst kurzen Frist zur Verbändebeteiligung sowie des sehr kurzen Verfahrens für die Ressortabstimmung“ verzichte der BEE darauf, „dem Bundesumweltministerium eine Stellungnahme zu übermitteln“.
Die Vertreter der Ökostrombranche – um die es bei der Energiewende ja eigentlich geht – sind besonders verärgert, weil in den EEG-Entwurf keine einzige ihrer langjährigen Forderungen aufgenommen wurde. Anreize zum Bau von Energiespeichern? Fehlanzeige. Einführung eines „Stetigkeitsbonus“ für Kraftwerke, die den schwankenden Sonnen- und Windstrom ausgleichen? Fehlanzeige.
Dabei hatten Union und FDP den Stetigkeitsbonus sogar in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Das neue EEG würde die Energiewende gar nicht beschleunigen, befindet BEE-Präsident Dietmar Schütz. Stattdessen sei „eine deutliche Verschlechterung der Rahmenbedingungen“ zu befürchten.
Bundestagsabgeordnete, die das intern „Fukushima-Paket“ genannte Gesetzesbündel am 30. Juni in zweiter und dritter Lesung verabschieden sollen, wissen kaum noch, wie sie der Datenflut Herr werden sollen: „Uns erreichen Heerscharen von Stellungnahmen, die wir nur noch selektiv sichten können“, sagt Carsten Pfeiffer, Referent des grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Josef Fell.
„Warum jetzt dieser Schweinsgalopp?“
Handwerkliche Fehler, Versäumnisse, logische Widersprüche zeigten sich überall in den Gesetzesentwürfen, stellt Pfeiffer fest: „Das Umweltministerium hat sich von Wissenschaftlern Punkte ausarbeiten lassen, und die Leute in der Praxis schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.“ Dass die Energiewende-Gesetze lange Bestand haben, glaubt der Experte nicht: „Die nächste Novelle wird nicht lange auf sich warten lassen, wenn jetzt nur Bananengesetze erarbeitet werden, die erst in der Praxis reifen.“
Dirk Becker, stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, versteht nicht, warum es die Bundesregierung bis zur Sommerpause nicht bei der Änderung des Atomgesetzes belässt. Für die Änderung des EEG, die ohnehin erst zur Jahreswende in Kraft treten soll, könne man sich noch bis Oktober Zeit nehmen. „Warum jetzt dieser Schweinsgalopp?“, fragt Becker und gibt sich die Antwort gleich selbst: Im Herbst beginnt wieder Wahlkampf. „Deshalb geht es jetzt nur darum, bis zur Sommerpause ein Thema totzuschlagen, das der Union wie ein Mühlstein um den Hals hängt."